Ein Vöglein, das irgendwo vor meinem offenen Fenster in der Sonne saß, zwitscherte mich sanft aus den Träumen.
Am Vorabend war es wieder spät geworden in dem Restaurant, in dem ich ein paar Mal pro Woche arbeite und ich war heute mal etwas länger liegen geblieben. Weil wir mit Khala selbst kein Geld verdienen, hatten Mel und ich Teilzeitjobs angenommen, um unsere Rechnungen bezahlen zu können. Nach diesen regulären Arbeitstagen trafen wir uns oft noch, um für Khala Zeugs zu erledigen, Pakete zu packen, Pläne zu schmieden und Strategien zu entwickeln. Zeit ist ein kostbares Gut geworden. Heute, an diesem warmen Frühlingstag aber, würde ich endlich wieder einmal genug davon haben, um all das zu erledigen, was sich in den letzten Wochen angesammelt hatte. Erst für heute Abend um fünf Uhr stand ein wichtiger Khala-Termin im Kalender.
Vor drei Wochen war ich umgezogen, hatte aber noch keine Zeit gefunden, mich in meinem neuen Zimmer anständig einzurichten. Auch das stand heute auf der Liste. Ich stieg aus dem Bett und bahnte mir einen Weg durch nicht ausgepackte Umzugskartons, kletterte über die Matratze meines Vormieters, die schon seit einiger Zeit den Flur meiner neuen WG blockierte, und ging ins Bad.
Benes Zimmer steht noch voller Umzugskisten.
Mel hatte gestern Hals über Kopf beschlossen, morgen früh nach Malawi zu fliegen. In den vorangegangenen Wochen hatten wir oft tagelang die Verbindung zu Patrick, unserem malawischen Projektkoordinator, verloren. Und Klaar, eine belgische Hobby-Designerin, die mit ihrer Familie in Malawis Hauptstadt Lilongwe wohnt und unser Team dort einmal in der Woche im Atelier besucht, hatte in ihren letzten Nachrichten ein recht desolates Bild von der aktuellen Situation und der Stimmung im Team gezeichnet. Wir fürchteten, dass unsere Leute überfordert waren mit der Verantwortung, die wir ihnen übertragen hatten. Ein neuer Motivationsschub war nötig. Also hatte Mel nach einer schlaflosen Nacht einen Entschluss gefasst. Ihr Chef hatte Verständnis gezeigt und ihr zwei Wochen freigegeben.
In den nächsten Tagen stand einiges bevor. Hubi würde ab kommender Woche eine mehrmonatige Auszeit nehmen und sich nach Südamerika absetzen. Dadurch, dass Mel in Malawi sein würde, würde ich die Organisation in Deutschland alleine übernehmen: Flyer entwerfen, einen Banner drucken lassen, Modenschauen organisieren, E-Mail-Anfragen beantworten, den Versand abwickeln, an unserer Verkaufsbude arbeiten, Freundinnen und Freunde gewinnen und koordinieren, die uns glücklicherweise immer wieder gerne unterstützen, Lieferanten in Afrika anschreiben und vieles mehr. Dazwischen drängten sich die Schichten meiner beiden Nebenjobs.
Um nach Malawi einzureisen, benötigte Mel noch US-Dollar. Da sie heute arbeiten musste, würde ich später zum Hauptbahnhof radeln und in einer Wechselstube die fürs Visum benötigten Dollars holen. Das markierte ich mir noch auf meiner imaginären To-Do-Liste, während ich einen Haufen Wäsche, der in einer Ecke meines Zimmers herangewachsen war, in die Waschmaschine stopfte. Mit einer dampfenden Tasse Kaffee in der Hand stieg ich über die Matratze im Flur und wanderte zurück in mein Zimmer, wo ich mich an das bunte Chaos meines Schreibtisches setzte. Lange war ich nun schon nicht mehr dazu gekommen, an einer neuen Khala Kolumna zu schreiben. Auch dem wollte ich mich heute widmen. Ich wusste noch nicht genau, worüber ich schreiben sollte. Jeden Tag passiert so wahnsinnig viel. Diese Flut aus Anekdoten und Erkenntnissen in geregelte Bahnen zu leiten, und möglichst unterhaltsam und informativ über die Höhen und Tiefen einer Start-Up-Gründung zu schreiben, fällt nicht immer leicht. Zumal es dafür Muse braucht. Eigentlich wollte ich irgendwas über Geld schreiben – ein urfades Thema. Man müsste es in eine Geschichte verpacken, irgendwas mit menschlichem Scheitern, das würde das Ganze auflockern.
Das Khala-Atelier in Malawi.
Meine Überlegungen wurden vom Vibrieren meines Handys unterbrochen. Ein Whatsapp-Anruf aus Malawi. Es war Patrick. „Hello Mr B.“ begrüßte er mich.
Ich finde es witzig, dass er mich so nennt. Natürlich dürfte er mich ruhig Bene nennen. Aber das wäre gegen die malawischen Höflichkeitskonventionen.
Ich erinnere mich nicht mehr genau, worüber wir in den folgenden zwanzig Minuten sprachen. Vermutlich ging es um die Anmeldung bei der malawischen Steuerbehörde, die sich mit Händen und Füßen dagegen sträubte, unsere Zahlungen anzunehmen. Der zuständige Beamte wollte immer neue Dokumente vorgelegt bekommen. Einmal glaubte man uns nicht, dass da zwei Deutsche nach Malawi kommen und ein Unternehmen mit so wenig Kapital gründen. Dann mussten wir eine Briefkasten-Adresse vorweisen, die wir nicht hatten und für deren Einrichtung die malawische Post wiederum einige Monate Vorlaufzeit benötigte. Es war ein ewiges Hin und Her. Während ich mit Patrick telefonierte, schaufelte ich die nasse Wäsche aus der Waschmaschine. Das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt und den Wäschekorb in den Händen, überwand ich die Matratze im Gang. Mit dem rechten Ellenbogen öffnete ich die Wohnungstür, um auf den Dachboden zu steigen und die Wäsche aufzuhängen. Ich gab der Tür hinter mir mit dem Fuß einen Stups. Sie fiel ins Schloss.
„Oh Shit,“ entfuhr es mir. „What’s up, Mr B?“ Ich hatte keinen Wohnungsschlüssel eingesteckt. Jetzt stand ich ausgesperrt im Treppenhaus, barfuß, in Jogginghose und dem Shirt, in dem ich geschlafen hatte. Ich beendete das Gespräch mit Patrick, hängte meine Wäsche auf und überlegte, ob es eine Möglichkeit gab, wieder in die Wohnung zu gelangen. Mit einem gebogenen Kleiderbügel fummelte ich ungeduldig durch den Briefschlitz in der Türe, um die Klinke von Innen herunterzudrücken. Nach ein paar ungeduldigen Versuchen rutschte der Kleiderbügel durch den Schlitz und schepperte drinnen zu Boden. Zumindest hatte ich ein Handy dabei. Es dauerte eine halbe Stunde bis ich heraus bekam, wo mein Mitbewohner arbeitete. Dort würde ich seinen Wohnungsschlüssel ausleihen können. Sein Arbeitsplatz befand sich am anderen Ende der Stadt. Ich ging wieder auf den Dachboden und schlüpfte in ein nasses, aber zumindest frisches, T-Shirt von der Leine. In einer Ecke fand ich ein Paar zerlöcherte Schuhe, die mir eine Nummer zu klein waren. Nachdem ich meine nackten Füße hineingezwängt hatte, konnte es losgehen.
Der Schlüssel für das Schloss meines Fahrrads war dort, wo auch mein Wohnungsschlüssel war. Beim Schwarzfahren wollte ich ohne Geld und Ausweis lieber nicht erwischt werden. Also sprang ich hinaus in den Frühling und begann zu joggen.
Der wichtige Khala-Termin am Abend rückte nun doch bedenklich nahe. Es gab ja noch einiges zu erledigen.
Es war ein sehr heißer Tag für die Jahreszeit. An der Isar lagen zufriedene Menschen in der Sonne. Ich hastete vorüber. An die grüne Wand eines Transformatorenhäuschens hatten nachdenkliche Unbekannte in schmucklosen weißen Lettern gepinselt: KANN DiE WELT NICHT RETTEN ABER FiND DiE iDEE GUT. Ich hatte gerade andere Sorgen. Die Schilder verschiedener Stadtviertel zogen vorbei. Es ging bergauf und bergab, stadteinwärts und wieder hinaus. Meine To-Do-Liste für den heutigen Tag schrumpfte auf wenige Punkte zusammen. Mein Outfit erntete befremdete Blicke. Wie hatte Karl Lagerfeld, der andere Modezar, einst gesagt: „Wer in Jogginghose das Haus verlässt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren.“
Irgendwann stand ich wieder vor meiner Wohnungstür. Diesmal mit dem Schlüssel meines Mitbewohners in der Hand. Drei Stunden waren vergangen, seit mir der Kleiderbügel durch den Briefschlitz gefallen war. Ich kletterte über die Matratze, duschte geschwind, zog mir eine Khala-Jacke an, sprang aufs Fahrrad und radelte zum Bahnhof, wo ich das Geld für Mel wechselte. Immerhin das konnte ich von der Liste streichen. Dann weiter zu dem wichtigen Termin – glücklicherweise ganz in der Nähe. Es war schon zwanzig nach fünf. Gehetzt betrat ich das große Gebäude. Ein Portier wies mir den Weg. Ich wand mich durch Trauben von Leuten in Abendgarderobe und Tracht. Ein kulanter Türsteher ließ mich noch hinein ins Studio des Bayerischen Rundfunks. „…Und wenn ihr euren Namen hört, dann kommt gleich auf die Bühne, wartet nicht darauf, was die anderen machen, das ist sonst tote Zeit. Da sagt keiner was und ich weiß auch nicht, was ich sagen soll und die Zuhörer denken sich ‚was ist da denn los?‘,“ instruierte ein Moderator Mel und ein paar andere Leute.
Die Preisverleihung zum „Guten Beispiel 2018“ würde in wenigen Minuten beginnen. Wir waren mit Khala im Finale. Es gab viel Geld zu gewinnen. Geld, das wir dringend benötigten, um neue Materialien für die Produktion zu kaufen, Mels Flug morgen zu bezahlen und überhaupt weitermachen zu können.
Wir gewannen den zweiten Platz. Und im Foyer gab es Schnittchen. Ich hatte den ganzen Tag noch nichts gegessen.